Die Angst vor einer dritten Intifada

Terroristen in Gaza feuern Raketen ab, Israel reagiert mit Luftschlägen. Dann greift die internationale Gemeinschaft ein und vermittelt einen Waffenstillstand. Normalerweise folgt die Krise im Nahen Osten einem eingespielten Muster. Doch dieses Mal ist vieles anders.
Hamas hatte Israel ein Ultimatum gestellt. Sollte Jerusalem am Montag bis 18 Uhr seine Sicherheitskräfte nicht vom Tempelberg (Arabisch: Al-Haram al-Scharif) und aus dem Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah abziehen, werde sie angreifen. Menschen aus dem ganzen Land waren angereist, um den Jerusalem-Tag zu feiern, an dem Israel an die Wiedervereinigung der Stadt nach dem Sechstagekrieg 1967 erinnert.
Nach Tagen heftiger Zusammenstöße mit Palästinensern hatte die Polizei ihre Einsatzbereitschaft in der Altstadt massiv erhöht. Um 18 Uhr ertönten dann tatsächlich Sirenen in Jerusalem. Im jüdischen Viertel der Altstadt stoben die Feiernden auseinander, suchten panisch Deckung in Hauseingängen und Cafés. Die Terrormiliz hatte sieben Raketen Richtung Jerusalem gefeuert. Ein Geschoss traf ein Haus in einem Außenbezirk der Stadt. Der Auftakt für mehr als 200 Raketen, welche Hamas auf Israel schoss. Israelische Medien berichteten von 31 Verletzten. Inzwischen gibt es auch Meldungen über erste Todesopfer.
Es ist ein großer Propagandaerfolg für die Terrormiliz. Sie diktiert, Jerusalem reagiert. Die israelische Armee (IDF) flog Vergeltungsschläge auf 130 Ziele im Gazastreifen, darunter Waffenlager, Angriffstunnel, Häuser von Terroristen. Nach Angaben der IDF wurden 15 Mitglieder der Hamas und des militanten Islamischen Dschihad getötet. Das Gesundheitsministerium in Gaza gab die Zahl der Toten mit 23 an, unter ihnen neun Kinder. Mehr als 100 Menschen seien verletzt worden.
Auch am Dienstagvormittag ertönten erneut Sirenen in israelischen Gemeinden nahe dem Gazastreifen. Die Schulen blieben vorsorglich geschlossen; auch das weiter entfernte Tel Aviv rief seine Einwohner zu Alarmbereitschaft auf. Alle kommunalen Luftschutzbunker wurden geöffnet.
Die Spannungen in Jerusalem steigen seit Wochen
Raketenangriffe auf Städte in der Nähe des Gazastreifens gehören für Israelis zum Alltag. Raketen auf Jerusalem jedoch sind eine Eskalation, wie sie das Land seit dem letzten Gazakrieg 2014 nicht gesehen hat. Dass Hamas einen derartigen Schritt wagt, hat auch mit einem Machtvakuum zu tun. Und mit über Wochen angestiegenen Spannungen in Jerusalem, die sie für ihre Zwecke nutzt.
Da sind zunächst einmal die Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten, die eigentlich in diesem Monat hätten stattfinden sollen. Seit 2006 hat es keine mehr gegeben. Damals siegte die islamistische Miliz über die säkulare Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Ein Bürgerkrieg war die Folge, in dem Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen gewann, während die Fatah weiter die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland anführte. Die palästinensische Bewegung ist seither gespalten. Wiederholte Einigungsversuche scheiterten. Im Frühjahr nun kamen Hamas und PA überein, gemeinsame Wahlen abzuhalten. Ziel sollte eine einheitliche Führung für alle Territorien sein.

Doch Mahmud Abbas kündigte kürzlich an, dass die Wahlen verschoben würden – ohne einen neuen Termin anzusetzen. Formal begründete er die Absage damit, dass Israel Wahlämter in Ostjerusalem nicht zulasse, dem Teil der Stadt, den die Palästinenser als Hauptstadt für einen eigenen Staat fordern. Für Israel ist Jerusalem hingegen seine ungeteilte Hauptstadt. Israel hatte sich nicht zu den Wahlämtern geäußert; dort hätte auch nur eine symbolische Zahl von Palästinensern wählen gehen können. Kritiker halten Abbas denn auch vor, dass die Jerusalem-Frage nur ein Vorwand war. Denn in Umfragen stand der 85-Jährige, der autokratisch per Dekret regiert und dem Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen werden, miserabel da. Hamas hatte sich hingegen Zugewinne erwartet.
Viele Palästinenser sind wütend auf Abbas. Hinzu kommt der Zorn über Vorgänge in Jerusalem. Es ist Ramadan, und nach dem abendlichen Fastenbrechen sitzen Muslime traditionell auf den Stufen vor dem Damaskustor der Altstadt zusammen. In diesem Jahr hatte die Polizei die Stufen zunächst abgesperrt – eine Sicherheitsmaßnahme gegen befürchtete Ausschreitungen, hieß es. Junge Muslime protestierten zum Teil gewalttätig dagegen. Die Polizei baute die Zäune ab – die Proteste gingen trotzdem weiter. Hinzu mischte sich die Empörung über eine drohende Zwangsräumung palästinensischer Familien im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah, deren Häuser nach israelischem Recht jüdischen Eigentümern gehören.
Israel muss nun mit Härte reagieren
Die Proteste gipfelten am Wochenende in gewalttätigen Ausschreitungen um und auf dem Tempelberg, bei denen junge Araber israelische Sicherheitskräfte mit Feuerwerkskörpern und Steinen angriffen. Diese trieben die Protestierenden auseinander und stürmten auch die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg.
Palästinenserpräsident Abbas gilt als schwach, weil die PA eine Sicherheitskooperation mit Israel unterhält. Israel selbst ist mit der Regierungsfindung absorbiert, nachdem eine vierte Wahl in zwei Jahren erneut ein parlamentarisches Patt hervorgebracht hatte. Die Terrormiliz Hamas sah eine Chance, sich als „Verteidigerin Jerusalems“ in Szene zu setzen: „Die Palästinensische Autonomiebehörde ist angeschlagen, Israel hat keine Regierung – diese Situation hat Hamas ausgenutzt, um sich als die wahre Palästinenserführung zu präsentieren und Macht zu demonstrieren“, sagt Michael Milshtein, ehemaliger Militärberater und Hamas-Experte.

Doch auch wenn es nicht so aussehe – eine noch stärkere Eskalation, die zum Krieg mit Israel führen könnte, wolle Hamas nicht, sagt er. Tatsächlich ist die Führung der Terrormiliz bemüht, die Schuld auf Israel zu schieben. „Wir sind nicht daran interessiert, einen Krieg zu starten, aber wenn Israel weiter die Al-Aksa-Moschee und die Gläubigen verletzt, werden wir nicht in der Lage sein, nicht zu reagieren“, ließ Hamas-Funktionär Saleh Al-Arouri verlauten. Und schob nach, Israel solle nicht „mit dem Feuer spielen“.
Tatsächlich verhält es sich andersherum. Nach zurückliegenden Raketenangriffen aus Gaza hatte Israel auffällig zurückhaltend reagiert. Doch nun, sagt die militärische wie politische Führung, müsse man mit Härte reagieren. Hamas habe alle roten Linien überschritten, sagte Israels Noch-Regierungschef Benjamin Netanjahu.
Militärexperten gehen davon aus, dass die Angriffe und Gegenangriffe in den nächsten Tagen anhalten werden. Normalerweise folgen sie einem eingespielten Muster: Terroristen in Gaza feuern Raketen ab, Israel reagiert mit Luftschlägen. Dann greifen Ägypten, Katar und die internationale Gemeinschaft ein und vermitteln einen Waffenstillstand.
Doch in diesen Tagen ist vieles anders. Die Lage in und um Jerusalem ist explosiv wie nie. „Israel befindet sich in einem Dilemma“, sagt Milshtein. „Auf der einen Seite muss es reagieren und Hamas in die Schranken weisen. Auf der anderen Seite ist die Gefahr groß, dass die Lage außer Kontrolle gerät.“ Denn auch in den arabischen Gemeinden Israels gab es in der Nacht schwere Zusammenstöße. Beobachter befürchten eine dritte Intifada.
Quelle: https://www.welt.de/